Freitag, Juli 25, 2014

Das illusorische ICH - Eckhart Tolle

Das illusorische Ich

Das Wort »ich« verkörpert den größten Irrtum und die tiefste Wahrheit, je nachdem, wie es verwendet wird. Bei herkömmlichem Gebrauch ist es (zusammen mit den Ableitungen »mir, mich und mein«) eines der am häufigsten verwendeten Worte der Sprache und darüber hinaus eines der irreführendsten.

Im normalen Alltagssprachgebrauch verkörpert das »Ich« den Ur-Fehler, das falsche Bild, das man sich von sich selbst macht, ein trügerisches Identitätsgefühl. Das ist das Ego.

Dieses trügerische Ichgefühl
bezeichnete Albert Einstein, der nicht nur ein tiefes Verständnis für die Wirklichkeit von Raum und Zeit hatte, sondern auch für das Wesen des Menschen, als »optische Täuschung des Bewusstseins«.
Dieses illusorische Ich muss jedoch als Basis für alle weiteren Interpretationen oder vielmehr Fehlinterpretationen der Wirklichkeit, für alle Denkvorgänge sowie alle Interaktionen und Beziehungen herhalten. Die Wirklichkeit wird zum Spiegelbild der ursprünglichen Täuschung.

Und jetzt die gute Nachricht:
Wenn du die Illusion als Illusion erkennst, löst sie sich auf.
Die Erkenntnis der Illusion ist zugleich ihr Ende.
Ihr Fortbestand hängt davon ab, ob du sie für Wirklichkeit hältst.

Sowie du erkennst, was du nicht bist, kommt das zum Vorschein, was du wirklich bist.
Das geschieht, während du langsam und aufmerksam dieses und das nächste Kapitel liest, in denen es um die Mechanik des falschen Selbst geht, das wir Ego nennen.

Wie ist dieses illusorische Selbst seinem Wesen nach beschaffen?
Worauf du dich beziehst, wenn du »ich« sagst, ist normalerweise nicht das, was du bist. Durch einen monströsen Akt der Reduktion wird die unendliche Tiefe dessen, was du bist, fälschlich mit einem Geräusch gleichgesetzt, das die Stimmbänder erzeugen, oder mit einem gedachten Ich und allem, womit sich dieses Ich identifiziert.

Was aber ist dann mit dem gewöhnlichen Ich und seinen Ableitungen mir, mich und mein gemeint?
Wenn ein kleines Kind begreift, dass eine Folge von Geräuschen, die seine Eltern mit ihren Stimmbändern erzeugen, sein Name ist, beginnt es ein Wort, das im Geist zum Gedanken wird, mit dem gleichzusetzen, was es ist. In diesem Entwicklungsstadium sprechen manche Kinder von sich selbst in der dritten Person. »Johnny hat Hunger.« Wenig später lernen sie das magische Wort »ich« und setzen es mit ihrem Namen gleich, den sie schon mit dem, wer sie sind, gleichgesetzt haben. Weitere Gedanken entstehen und verschmelzen mit dem ursprünglichen »Ich«-Gedanken.

Der nächste Schritt sind Gedanken des »mir« und »mein«, mit denen Dinge gekennzeichnet werden, die irgendwie zum Ich dazugehören. Das ist die Identifikation mit Objekten: Den Dingen, eigentlich sogar nur den Gedanken, die diese Dinge repräsentieren, wird ein Ichgefühl zugeordnet, sodass man aus ihnen seine Identität bezieht.

Wenn »mein« Spielzeug kaputtgeht oder mir weggenommen wird, leide ich. Nicht, weil dieses Spielzeug einen eigenen Wert hat - ein Kind verliert schnell das Interesse daran, außerdem ist es leicht durch anderes Spielzeug, andere Gegenstände zu ersetzen -, sondern wegen des Gedankens »mein«.
Das Spielzeug ist ein Teil des sich entwickelnden Selbst- oder Ichgefühls des Kindes geworden.

Während das Kind heranwächst, zieht der ursprüngliche Ich-Gedanke weitere Gedanken an: Es identifiziert sich mit seinem Geschlecht als Mädchen oder Junge, mit Besitz, mit dem durch die Sinne erfahrenen Körper, mit einer Nationalität, einer Rasse, einer Religion oder einem Beruf. Des Weiteren identifiziert sich das Ich mit Rollen - Mutter, Vater, Ehemann, Ehefrau usw. -, mit erworbenem Wissen, Meinungen, Vorlieben und Abneigungen, aber auch mit Dingen, die »mir« in der Vergangenheit widerfahren sind und an die ich »mich« in Gedanken erinnere, sodass ein Gefühl von »ich und meine Geschichte« entsteht.

Dies ist nur einiges von dem, woraus die Menschen ihr Identitätsgefühl beziehen.
Dabei handelt es sich im Grunde bloß um Gedanken, die lose durch die Tatsache zusammengehalten werden, dass ihnen allen ein Ichgefühl zugeordnet wurde. Dieses mentale Konstrukt ist normalerweise gemeint, wenn wir »ich« sagen. Genauer gesagt: Die meiste Zeit sind wir es gar nicht, der spricht, wenn wir »ich« denken oder sagen, sondern es ist ein Aspekt dieses mentalen Konstrukts - des Egogeistes.

Sobald wir erwachen, benutzen wir zwar noch das Wort »ich«, aber dann kommt es aus einer ganz anderen Tiefe unseres Innern.

Die meisten Menschen identifizieren sich noch immer mit dem unaufhörlichen Strom der Gedanken, dem zwanghaften Denken, wovon das meiste sinnlose Wiederholungen sind. Außerhalb ihrer gedanklichen Prozesse und der damit einhergehenden Emotionen gibt es kein Ich. Das ist mit spiritueller Unbewusstheit gemeint. Wenn den Leuten gesagt wird, dass unablässig eine Stimme in ihrem Kopf redet, sagen sie: »Was für eine Stimme?« und leugnen sie einfach ab, obwohl genau das natürlich die Stimme ist, der Denker, der unbeobachtete Verstand. Sie kann fast als ein Wesen betrachtet werden, das von ihnen Besitz ergriffen hat.


Einige Menschen vergessen nie, wie es war, als sie sich das erste Mal nicht mit ihren Gedanken identifizierten und so einen kurzen Identitätswandel erlebten vom Inhalt ihres Denkens zur Bewusstheit, die dessen Hintergrund bildet. Bei anderen geschieht es auf so subtile Weise, dass sie es kaum bemerken, oder sie spüren nur ein Mehr an Freude oder innerem Frieden, ohne den Grund dafür zu erkennen.



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Eckhart Tolle - Eine neue Erde

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